Frau Holle
Das Original Märchen
Lesedauer:
7 Minuten



Gutes Mädchen besteht Proben von Frau Holle und wird belohnt. Faule Schwester nicht. Kikeriki, unsere goldene/schmutzige Jungfrau ist wieder hie

Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere hässlich und faul. Sie hatte aber die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere musste alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen musste sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen, und musste so viel spinnen, dass ihm das Blut aus den Fingern floss. Nun trug es sich zu, dass die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen. Sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schimpfte es aber so heftig und war so unbarmherzig, dass sie sprach: „hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder heraus.“ Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wusste nicht, was es anfangen sollte. Und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung. Und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen. Auf dieser Wiese ging es weiter und kam zu einem Backofen, der voller Brot war; das Brot aber rief: „ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich. Ich bin schon längst ausgebacken.“ Da trat es hinzu und holte mit dem Brotschieber alles nach einander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum. Der hing voll Äpfel, und rief ihm zu: „ach schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.“ Da schüttelte es den Baum, dass die Äpfel fielen als würde es sie regnen. Sie schüttelte bis keiner mehr oben war. Und als es alle zu einem Haufen zusammengelegt hatte, ging es wieder weiter.
Endlich kam es zu einem kleinen Haus. Daraus guckte eine alte Frau. Weil sie aber so große Zähne hatte, bekam sie Angst, und es wollte weglaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: „was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir. Wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll es dir gut bei mir gehen. Du musst nur Acht geben, dass du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, dass die Federn fliegen - dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau Holle.“ Weil die Alte ihm so gut zusprach, so fasste sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst. Es besorgte auch alles nach ihrer Zufriedenheit, und schüttelte ihr das Bett immer gewaltig auf, dass die Federn wie Schneeflocken umher flogen. Dafür hatte es auch ein gut Leben bei ihr, kein böses Wort und alle Tage Gesottenes und Gebratenes. Nun war es eine Zeitlang bei der Frau Holle, da wurde es traurig und wusste anfangs selbst nicht, was ihm fehlte. Endlich merkte es, dass es Heimweh war. Obwohl es ihm hier gleich viel tausend Mal besser ging als daheim, so hatte es doch ein Verlangen dahin. Endlich sagte es zu ihr: „ich habe Heimweh. Und auch wenn es mir noch so gut hier unten geht, so kann ich doch nicht länger bleiben. Ich muss wieder hinauf zu den Meinigen.“ Die Frau Holle sagte: „es gefällt mir, dass du wieder nach Haus möchtest. Und weil du mir so treu gedient hast, so will ich dich selbst wieder hinauf bringen.“ Sie nahm es darauf bei der Hand und führte es vor ein großes Tor. Das Tor wurde geöffnet. Und wie das Mädchen gerade darunter stand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, sodass es über und über davon bedeckt war. „Das sollst du haben, weil du so fleißig gewesen bist“, sprach die Frau Holle und gab ihm auch die Spule wieder, die ihm in den Brunnen gefallen war. Danach wurde das Tor wieder geschlossen und das Mädchen befand sich oben auf der Welt, nicht weit vom Haus ihrer Mutter. Und als es in den Hof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief:
„kikeriki,
unsere goldene Jungfrau ist wieder hie.“
Da ging es hinein zu seiner Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt ankam, wurde es von ihr und der Schwester gut aufgenommen.
Das Mädchen erzählte alles, was ihm begegnet war, und als die Mutter hörte wie es zu dem großen Reichtum gekommen war, wollte sie der andern hässlichen und faulen Tochter gerne dasselbe Glück verschaffen. Sie musste sich an den Brunnen setzen und spinnen. Und damit ihre Spule blutig wurde, stach sie sich in die Finger und verletzte sich die Hand in der Dornenhecke. Dann warf sie die Spule in den Brunnen und sprang selber hinein. Sie kam, wie die andere, auf die schöne Wiese und ging auf demselben Pfade weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das Brot wieder: „ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich, ich bin schon längst ausgebacken.“ Die Faule aber antwortete: „als hätte ich Lust, mich schmutzig zu machen“, und ging weg. Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rief: „ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.“ Sie antwortete aber: „du kommst mir recht, es könnte mir einer auf den Kopf fallen“, und ging weiter. Als sie vor dem Haus der Frau Holle ankam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren großen Zähnen schon gehört hatte - und bat sich gleich bei ihr zur Arbeit an. Am ersten Tag überwand sie sich noch, war fleißig und folgte der Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte. Denn sie dachte an das viele Gold, das sie ihr schenken würde. Am zweiten Tag aber fing sie schon an zu faulenzen. Am dritten noch mehr, da wollte sie morgens gar nicht aufstehen. Sie machte der Frau Holle auch das Bett nicht mehr, wie es sich gebührte, und schüttelte es nicht, dass die Federn aufflogen. Das hatte es die Frau Holle bald satt mit ihr und sagte ihr den Dienst auf. Die Faule war ganz froh darüber und meinte nun würde der Goldregen kommen. Die Frau Holle führte sie auch zu dem Tor. Als sie aber darunter stand, wurde anstatt des Goldes ein großer Kessel voll Pech ausgeschüttet. „Das ist zur Belohnung deiner Dienste“, sagte die Frau Holle und schloss das Tor zu. Da kam die Faule heim, aber sie war ganz mit Pech bedeckt, und der Hahn auf dem Brunnen, als er sie sah, rief:
„kikeriki,
unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie.“
Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, so lange sie lebte, nicht abgehen.
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© Kati Winter