Rapunzel
Das Original Märchen
Lesedauer:
10 Minuten



Mädchen wird von Hexe in Turm gesperrt. Prinz rettet sie, wird geblendet, findet sie wieder. Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind. Sie hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand. Er war aber von einer hohen Mauer umgeben und niemand wagte es hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte - und von aller Welt gefürchtet wurde. Eines Tags stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab. Da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war. Und sie sahen so frisch und grün aus, dass sie das größte Verlangen empfand von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu. Und da sie wusste, dass sie keine jemals davon bekommen konnte, verfiel sie immer mehr und sah blass und elend aus. Da erschrak der Mann und fragte: „was fehlt dir, liebe Frau“? „Ach“, antwortete sie, „wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, dann sterbe ich.“ Der Mann, der sie lieb hatte, dachte bei sich: „bevor du deine Frau sterben lässt, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten was es will.“ In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sofort einen Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Um jemals wieder zur Ruhe zu kommen, musste der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung auf. Als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. „Wie kannst du es wagen“ sprach sie mit zornigem Blick, „in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen.“ „Ach“, antwortete er: „lasst Gnade für Recht ergehen, ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen. Meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt und empfindet ein so großes Verlangen, dass sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.“ Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: „verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten Rapunzeln mitzunehmen - so viel du willst, aber unter einer Bedingung: du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will dafür sorgen wie eine Mutter.“ Der Mann sagte in der Angst alles zu. Und als die Frau darauf ein Kind bekam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Wald lag, und weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief:
„Rapunzel, Rapunzel,
lass mir dein Haar herunter.“
Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter. Und die Zauberin stieg daran hinauf.
Nach ein paar Jahren trug es sich zu, dass der Sohn des Königs durch den Wald ritt und an dem Turm vorüber kam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, dass er anhielt und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn wollte zu ihr hinauf steigen und suchte nach einer Türe im Turm, aber es war keine zu finden. So ritt er heim. Doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, dass er jeden Tag hinaus in den Wald ging und zuhörte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er, dass eine Zauberin heran kam und hörte wie sie hinauf rief:
„Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter.“
Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. „Ist das die Leiter, auf welcher man hinauf kommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen. „Und den folgenden Tag, als es anfing dunkel zu werden, ging er zu dem Turm und rief:
„Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter.“
Alsbald fielen die Haare herab und der Königssohn stieg hinauf.
Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr herein kam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten. Doch der Königssohn fing an ganz freundlich mit ihr zu reden und erzählte ihr, dass von ihrem Gesang sein Herz so sehr bewegt worden sei, dass es ihm keine Ruhe gelassen und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst. Und als er sie fragte, ob sie ihn zum Mann nehmen würde - und sie sah, dass er jung und schön war -, so dachte sie: „der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel“, wie sie die Hexe nannte, und sagte ja, und legte ihre Hand in seine Hand. Sie sprach: „ich will gerne mit dir gehen, aber ich weiß nicht, wie ich herab kommen kann. Wenn du kommst, so bring“ jedes Mal einen Strang Seide mit. Daraus will ich eine Leiter flechten und wenn die fertig ist, so steige ich herunter und du nimmst mich auf dein Pferd.“ Sie verabredeten, dass er bis dahin jeden zweiten Abend zu ihr kommen sollte. Denn an den anderen Tagen kam die Alte. Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal Rapunzel anfing und zu ihr sagte: „sagen sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, dass es mir viel schwerer fällt, sie heraufzuziehen, als den jungen Königssohn, der mich besuchen kommt“? „Ach du gottloses Kind“, rief die Zauberin, „was muss ich von dir hören? Ich dachte, ich hätte dich von aller Welt abgeschieden, und du hast mich doch betrogen“! In ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Schere mit der rechten, und ritsch, ratsch, warm sie abgeschnitten. Und die schönen Zöpfe lagen am Boden. Und sie war so unbarmherzig, dass sie die arme Rapunzel in eine Einöde brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben musste.
Am selben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte, machte die Zauberin abends die abgeschnittenen Zöpfe oben am Fensterhaken fest, und als der Königssohn kam und rief:
„Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter“,
da ließ sie die Haare hinab. Der Königssohn stieg hinauf, aber er fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah. „Aha“, rief sie höhnisch, „du willst die Frau Liebste holen. Aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr. Die Katze hat ihn geholt und wird dir auch noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.“ Der Königssohn geriet außer sich vor Schmerz und in der Verzweiflung sprang er den Turm herab: das Leben verlor er zwar nicht dabei, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er blind im Wald umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und tat nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So wanderte er einige Jahre im Elend umher und geriet endlich in die Einöde, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und ein Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, die ihm so bekannt vorkam: da ging er darauf zu. Und wie er heran kam, erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Tränen aber benetzten seine Augen. Da wurden sie wieder klar und er konnte damit sehen wie zuvor. Er führte sie in sein Reich, wo er mit Freude empfangen wurde. Und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.
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© Kati Winter